Darmprobleme, Entzündungen, Autoimmunerkrankungen, Ängste, Depressionen, Epilepsie, Unruhe, Bluthochdruck...in vielen aktuellen Sachbüchern wird der Nervus Vagus als der "Selbstheilungsnerv" gepriesen, durch dessen Stärkung man alle diese Problemen verbessern kann. Was ist da dran?
Wer oder was ist eigentlich der Nervus Vagus?
„Der Vagus, der Vagabund unter den Nerven, ist der eigentliche Zeremonienmeister jeder Meditation, sei es nun fernöstlicher oder westlicher Prägung. Der Vagus ist der wichtigste Nerv im parasympathischen System, er ist unser grosser Ruhe-Nerv.“
Prof. Gerd Schnack ‚Der Grosse Ruhe-Nerv‘
Im Stammhirn entspringt der Vagusnerv. Er ist der zehnte und längste unserer zwölf Hirnnerven.
In dieser Region des Gehirns, werden die überwiegende Mehrheit der automatisch ablaufenden Funktionen des Körpers wahrgenommen, verarbeitet und gesteuert.
Der Vagus verläuft weiter entlang der Arteria Carotis durch den Hals, zweigt sich zu den Ohren hin und in den Kehlkopf, erstreckt sich im Brustraum und spaltet sich in den linken und rechten Vagus.
Verästelungen führen zum Vorhof des Herzen, Lunge, Magen, Bauchspeicheldrüse, Darm und weiteren Organen im Bauchraum.
Er steht mit allem, was wichtig ist, in Verbindung – über Zehntausende von Nervenfasern.
Der Vagusnerv ist Teil unseres parasympathischen Nervensystems, das mit dem Sympathikus unser vegetatives Nervensystem bildet.
Dieses funktioniert autonom, folglich ohne unser Zutun.
Das heißt aber nicht, dass wir nicht darauf bewusst Einfluss nehmen können.–
Herzfrequenz und Verdauung, Atmung, Schwitzen, Blutdruck und Blutzuckerspiegel, Magen- und Gallenflüssigkeit, Nierenfunktion und Speichelfluss- an all diesen Steuerungen ist der Nervus Vagus massgeblich beteiligt.
Woran erkenne ich, ob mein vegetatives Nervensystem gut funktioniert?
Du regst Dich auf- im positiven wie im negativen Sinne: Dein Puls steigt, Deine Wangen röten sich, Deine Muskel spannen sich, Du beginnst eventuell zu schwitzen, Deine Atmung verändert sich...der Sympathikus ist am Werk!
Die Aufregung ist vorbei, Du entspannst Dich, die Herzfrequenz nimmt ab, die Atmung wird wieder tiefer...der Parasympathikus schafft es wieder Dich zu beruhigen.
Beides ist ein gutes Zeichen!
Mit der Messung der Herzratenvariabilität (Veränderung Deines Pulses) kann man den Vagotonus gut messen.
"In den allermeisten Fällen sieht man bei Personen mit viel geistiger Arbeit und Stress, dass der Vagus runterreguliert ist", sagt Marlen Schröder, Fachärztin Allgemeinmedizin und Leiterin einer Privatpraxis für Integrale Heilkunst in Berlin. Dabei sei wichtig zu erkennen, dass der Vagus nicht krank ist, «sondern dass wir nicht mehr in der Lage sind, ihn arbeiten zu lassen – weil unser Verhalten das gar nicht mehr zulässt».
Beobachte Dich: Wie oft ertappst Du Dich, dass Du stundenlang angespannt vor dem Computer bei Deiner Arbeit sitzt.
Mit knirschendem Kiefer, verspanntem Nacken, verkrampften Schultern und flacher Atmung gibt man dem Organismus permanent das Signal einer Gefahrensituation. Für den Körper ist das, als sitze wie vor Urzeiten ein gefährlicher Löwe vor uns, beschreibt es Schröder, «purer Stress». Folglich ist es wichtig, sich bereits während der geistigen Aktivität immer wieder mal zu überprüfen, zu lockern und in den Bauch zu atmen. Die Folge ist, dass unser Regulationssystem dann weiß: Hier herrscht eine ganz normale Aktion vor, keine Gefahr.
Wie kann ich meinen Vagusnerv stimulieren?
«Schon zwei, drei Minuten die Augen schliessen und tief in den Bauch atmen hilft dem Vagus.»
Lege bewusst Pausen ein und versuche zu entspannen.
Atemübungen:
Tief durchatmen, besonders in Stresssituationen.
Entscheidend ist die tiefe Bauchatmung und Ausatmung.
Legen die Hände auf den Bauch, versuche Dich zu entspannen und den Atem ganz ruhig Richtung Bauch fließen zu lassen. Konzentriere Dich darauf und spüre, wie sich die Hände heben und senken.
Kälteanwendungen:
Auf die Schnelle: "Spritze Dir kaltes Wasser ins Gesicht." Nicht umsonst kühlt man damit überhitzte Gemüter ab;).
Kältereize stimulieren den Vagusnerv beziehungsweise den gesamten Parasympathikus.
Unter der Dusche: Lasse Dir das Wasser zunächst über Beine und Arme laufen und anschließend vorzugsweise den Hals entlang.
Augenpressur:
Drücke mindestens 1 Minute zart mit den Handflächen/Daumenballen gegen die geschlossenen Augen. Das aktiviert den 3. Hirnnerv.
Massagen:
Fußreflexzonenmassagen, Kopfmassagen, auch eine sanfte Halsmassage und Lymphdrainage stimulieren den Nervus Vagus.
Für die Halsmassage lege beide Handflächen an die Seiten des Halses und kreise sanft über die Haut zwischen Ohr und Schulterübergang.
Kopf drehen, Augen aktivieren:
Drehe den Kopf langsam in eine Richtung und fixiere mit den Augen einen Gegenstand in nächster Nähe. Drehe dann den Kopf in die andere Richtung und wiederhole das Ganze. Führe die Übung einige Male durch. Damit sprichst Du den Teil des Nervs an, der durch den Hals verläuft sowie die damit verbundenen Ziliarmuskeln der Augen.
Singen:
Singe laut, vor allem die Vokale a, o und u.
Auch mit dem Mantra OM erzielst Du einen ähnlichen Effekt. Hintergrund ist der, dass der Vagusnerv an Kehlkopf und Luftröhre vorbeilaufen. Durch das Vibrieren der Stimme wird der Vagusnerv stimuliert.
Sport und Ausdauertraining:
Regelmäßige Aktivität senkt den Ruhepuls und vertieft die Atmung.
Prof. Schnack:
Laut Prof. Schnack besteht heute bei vielen Menschen eine Dysbalance des vegetativen Nervensystems, weil der moderne Mensch fast permanent unter dem ‚Antrieb‘ des Sympathikus steht, was zu Dauerstress und Problemen wie Burnout führen kann. Schnack ist überzeugt, dass es nicht der Stress per se ist, der uns krank macht, sondern der fehlende Ausgleich mit Pausen, wobei es Pausen in Ruhe oder aber auch Pausen mit einer moderaten körperlichen Anstrengung sein können, z.B. indem wir eine Sportart betreiben, die uns entspricht und uns Freude bereitet. Besonders die heute für viele Menschen wichtige 24-Stunden-Online-Präsenz sieht Schnack als einen zentralen ‚Stressfaktor‘ der heutigen Zeit. Wenn unsere Aufmerksamkeit fast dauernd nach aussen gerichtet ist, gibt es kaum noch besinnliche Momente, wichtige körpereigene Signale können nicht mehr wahrgenommen werden.
Willst Du mehr wissen?
Dann lies weiter:
Sympathikus und Parasympathikus:
Fast alle inneren Organe werden sowohl vom Sympathikus als auch vom Parasympathikus beeinflusst, und dies gegensinnig.
Der Sympathikus versetzt den Körper in eine erhöhte Leistungsbereitschaft, er wirkt bei Angriffs- oder Fluchtverhalten und anderen aussergewöhnlichen Anstrengungen. Seine Wirkung ist nach aussen gerichtet, man bezeichnet sie als ergotrop.
Der Parasympathikus hingegen hat eine trophotrope Wirkung, das heisst, seine Wirkung ist nach innen gerichtet. Er steht für Ruhe und Entspannung, fördert die Regeneration und den Aufbau körpereigener Reserven.
Für unsere Gesundheit ist es wichtig, dass Sympathikus und Parasympathikus im Gleichgewicht sind. Ohne Stress würden wir verkümmern, aber nach einem Tag mit einem hohen Stressniveau ist Ruhe und Entspannung abends und nachts umso wichtiger. Nur wenn sich Stress und Erholung im Gleichgewicht befinden, ist ein Zustand der Ausgeglichenheit möglich. Und dieser ist entscheidend für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden.
Durch Forschungen von Prof. Stephen W. Porges in den 90er Jahren wurde aber bekannt, dass diese Betrachtungsweise des vegetativen Nervensystems mit Sympathikus und Parasympathikus als Gegenspieler nicht die ganze Wahrheit ist. Porges fand heraus, dass das vegetative Nervensystem nicht polar, sondern hierarchisch geordnet ist und dass neben dem Sympathikus ein altes und ein neues vagales System bestehen, und dass in diesem neuen vagalen System einige Hirnnerven eine bedeutende Rolle spielen.
Der Sympathikus bewirkt:
- Steigerung der Herztätigkeit
- Erhöhung des Blutdruckes
- Steigerung der Durchblutung und des Tonus der Skelettmuskulatur
- Erweiterung der Bronchien
- Pupillenerweiterung
- Steigerung der Schweissdrüsensekretion
- Adrenalinausschüttung im Nebennierenmark
Der Sympathikus hemmt dafür andere, für die unmittelbare Aktivität nicht unbedingt erforderliche Vorgänge wie z.B. die Darmtätigkeit oder die Durchblutung der Haut.
Der Parasympathikus bewirkt:
- Senkung der Herzfrequenz
- Senkung des Blutdruckes
- Verminderung des Tonus des Skelettmuskulatur
- Verengung der Bronchien
- Verengung der Pupillen
- Hemmung der Schweißdrüsensekretion
Er sorgt für Ruhe, Entspannung und Erholung. Unter dem Einfluss des Parasympathikus kommt der Körper in einen Zustand der Harmonie, in welchem auch Heilungsprozesse stattfinden können. dem Einfluss des Parasympathikus werden hingegen die Verdauungsorgane aktiviert durch Erhöhung der Peristaltik und der Sekretion von Verdauungsenzymen, oder auch die Durchblutung der Haut wird gefördert.
Prof. Stephen W. Porges‘ Forschungen
Stephen W. Porges ist Professor für Psychiatrie und Biomedizintechnik und Direktor des ‚Brain Body Center‘ an der University of Illinois in Chicago. Porges erforschte und entwickelte in den 90er Jahren die Theorie des Polyvagalen Nervensystems. Diese versucht, die Bedeutung des vegetativen Nervensystems für die Gesundheit verständlich zu machen.
Porges geht davon aus, dass jedes menschliche Verhalten adaptiv ist, oder es früher zumindest einmal war. Adaptiv bedeutet, dass ein Lebewesen sein Verhalten so anpassen kann, dass es möglichst lange mit der Umwelt in Kontakt und dadurch am Leben bleiben und sich somit auch fortpflanzen kann.
Ursprünglich erforschte Porges anfangs der 90er Jahre das vegetative Nervensystem mit den zwei polar zueinander stehenden Anteilen, dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Damals entdeckte er das Prinzip der Herzfrequenz-Variabilität (HRV). Dieses besagt, dass ein gesunder Organismus über das vegetative Nervensystem die Herzfrequenz ständig den aktuellen Erfordernissen anpasst. Mit der Messung der Herzfrequenz-Variabilität haben wir die Möglichkeit zu sehen, wie das vegetative Nervensystem unseren Körper reguliert, bzw. wie das vegetative Nervensystem auf bestimmte Herausforderungen reagiert.
Eine deutliche HRV ist Ausdruck von Gesundheit.
Medizinisch erwiesen ist vor allem der Einfluss des Nervus Vagus auf Epilepsie, Depression, vermehrte Magensäure und Bluthochdruck.
Quellen:
Nervus Vagus; Diplomarbeit von Barbara Wildbolz (Dezember 2014)
Nervus Vagus selbst stimulieren; FOCUS.de
Vagus - der Selbstheilungsnerv; A. Vogel (2020)
Wikipedia
www.weltbild.de
Einfluss des Nervus Vagus und gastrointestinaler Hormone auf die Ghrelinskretion im Magen der Ratte; Dissertation; Florian David Nikolaus Kircher
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Mu (Donnerstag, 18 November 2021 20:07)
Sehr interessant,habe schon zweimal durchgelesen! Super!