· 

Inkontinenz - ein großer Leidensdruck.

Inkontinenz: Unwillkürlicher Harnverlust ist ein Thema, worüber man gerne schweigt...

...und doch ist es wichtig, darüber zu reden, da er häufig zu körperlicher Inaktivität, sozialem Rückzug und Einsamkeit führt!

 

Schätzungsweise jede bzw. jeder Neunte ist von Harn- und / oder Stuhlinkontinenz betroffen.

Genaue Zahlen fehlen, denn Inkontinenz ist ein großes Tabuthema.

 

Ab 80 Jahren ist etwa jeder Dritte von Harn- und jeder Fünfte von Stuhlinkontinenz betroffen.

Aber auch 17 Prozent der 40- bis 59-Jährigen und 23 Prozent der 60- bis 79-Jährigen haben eine Form der Blasenschwäche (Nygaard, Jama 2011).

Der Großteil von ihnen leidet im Stillen:

Knapp 70 Prozent waren wegen Harninkontinenz noch nie in ärztlicher Behandlung (Studie Blasengesundheit 2015).

 

Interview mit Anita Kraus, Physiotherapeutin, spezialisiert auf dem Gebiet der konservativen Therapie in der (Uro-) Gynäkologie:

M:

Liebe Anita, was hat Dich bewegt, Dich für dieses Thema zu spezialisieren?

Welche Ausbildungen und Erfahrungen hast Du auf diesem Gebiet?

 

A:

Eine gute Freundin ist Hebamme und hat mich vor 8 Jahren gefragt, ob ich Interesse hätte, Rückbildungsgymnastik anzubieten.

Das war der Einstieg in diese Thematik.

Im Laufe der Jahre habe ich mich immer mehr damit auseinandergesetzt und mich vertieft.

Ich habe verschiedene Fortbildungen in den Bereichen Beckenboden, Pessarversorgung, vaginale und rektale Behandlungen und Rektusdiastase besucht.

Es ist ein irrsinnig spannendes und wie ich finde wichtiges Themenfeld.

 

M:

Was ist Inkontinenz?

 

A:

Inkontinenz bedeutet die Unfähigkeit Harn, Stuhl oder Winde kontrolliert zu halten.

Auch der Verlust von ein paar Tropfen oder das unkontrollierte Abgehen von Winden zählen schon zu Inkontinenz.

 

M:

Ist Inkontinenz ein ausschließlich weibliches Thema?

 

A:

Nein, aber Frauen sind aufgrund ihrer Anatomie und der vermehrten Belastung während der Schwangerschaft und Geburt weitaus häufiger betroffen.

Auch der Wechsel kann Einfluss auf die Funktion des Beckenbodens haben.

Bei Männern tritt Inkontinenz meistens bei Vergrößerung oder Entfernung der Prostata auf.

Auch Kinder können von Inkontinenz betroffen sein.

 

M:

Wieviel Fassungsvermögen sollte eine Blase haben?

 

A:

Die durchschnittliche Harnmenge beim Toilettengang sollte etwa 250 bis 300ml betragen.

Die Blase ist ein sogenanntes muskuläres Hohlorgan und sehr flexibel.

Somit kann es auch sein, dass bis zu 800ml in der Blase Platz finden.

Das kann aber zu einer Überdehnung und zu einem Funktionsverlust der Blase führen.

 

M:

Was ist der Beckenboden?

 

A:

Der Beckenboden wird aus mehreren Muskeln gebildet und schließt den Rumpf nach unten hin ab.

Die Muskulatur ist am knöchernen Becken fixiert und hat bei Frauen drei bei Männern zwei Öffnungen.

 

M:

Weiß man, was zu Inkontinenz führen kann?

 

A:

Inkontinenz kann unterschiedliche Ursachen haben.

Zum einen gibt es neurologische Ursachen, die eher die Muskulatur der Blase beeinflussen.

Sehr häufig kommt es durch die starke Dehnung oder Verletzungen während der Geburt zu einem Funktionsverlust des Beckenbodens.

Auch Senkungen oder falsch antrainiertes Toiletteverhalten oder Verstopfungen können den Beckenboden schwächen und zu einem Harnverlust führen.

Bei Männern hat es meistens einen Zusammenhang mit der Entfernung oder Bestrahlung der Prostata.

 

M:

Welche Formen gibt es?

 

A:

Man spricht von Dranginkontinenz und Belastungsinkontinenz, wobei allerdings sehr häufig Mischformen auftreten.

 

M:

Was versteht man unter Belastungsinkontinenz?

 

A:

Unter Belastung versteht man eine Druckerhöhung im Bauchraum.

Diese kommt  zum Beispiel beim Husten, ´Niesen, Heben oder auch bei bestimmten Sportarten wie beim Joggen zustande.

Kommt es bei diesen Belastungen zu einem Harn- Stuhl- oder Windverlust spricht man von einer Belastungsinkontinenz.

 

M:

Was bedeutet Dranginkontinenz?

 

A:

Von einer Dranginkontinenz spricht man, wenn der Harndrang nicht zurückgehalten bzw. kontrolliert werden kann.

Betroffene müssen meist sehr häufig auf die Toilette, spüren einen nicht unterdrückbaren Drang, wenn sie die Haustür oder WC- Tür sehen oder Wasser fließen hören.

Auch der häufige nächtliche Harndrang fällt darunter.

 

M:

Gibt es Mischformen?

 

A:

Ja, meistens gibt es Mischformen.

So genau lässt sich das in der Praxis oft nicht einteilen.

 

M:

Wie wird eine Inkontinenz diagnostiziert?

 

A:
Nun ja, in Wahrheit sieht man die "Diagnose" an der nassen Unterhose oder findet Stuhlschmieren darin.

Es gibt urologische Untersuchung- und Messmöglichkeiten, die aber nicht zwingend nötig sind.

In der Physiotherapie ist das Anamnesegespräch, also das Erfragen der genauen Beschwerden und der gesundheitlichen Geschichte am Wichtigsten.

Weiters nutze ich ein Miktionsprotokoll und eine genaue Untersuchung des Beckenbodens um herauszufinden, warum es zu einer Inkontinenz gekommen ist.

 

M:

Reicht "zusammenzwicken"?

 

A:

Nein.

Ein gutes Zusammenspiel der Beckenbodenmuskeln mit den Bauch- und Rückenmuskeln ist sehr wichtig.

Der Beckenboden kann sehr individuell angespannt werden. Das müssen viele aber erst lernen.

Außerdem ist es ganz wichtig, auch auf die Entspannung zu achten.

 

M:

Welche Möglichkeiten gibt es?

 

A:

Ein gezieltes Beckenbodentraining bei einer spezialisierten Physiotherapeutin ist bestimmt ein wichtiger Anfang.

Manchmal ist es notwendig eine Stütze für die Organe zu verwenden und manchmal kann auch eine Operation notwendig sein.

 

M:

Wann ist eine Operation notwendig?

 

A:

Bei einer fortgeschrittenen Senkung beziehungsweise einem Prolaps- also Heraustreten der Blase. der Gebärmutter oder des Enddarms aus dem Scheideneingang- hilft das Training des Beckenbodens kaum.

Eine Senkung kann strenggenommen nicht mehr wegtrainiert werden.

Aber je früher Frau sich darum kümmert, desto besser die Ergebnisse.

Ein gezieltes Beckenbodentraining und Schulung für das Alltagsverhalten ist aber auch vor und nach einer Operation dringend zu empfehlen um bestmögliche Resultate zu erzielen.

 

M:

Was denkst Du über Pessare?

 

A:

Pessare sind Stützmittel, die in die Vagina gelegt werden und die Scheidewand stabilisieren.

Ich finde sie eine großartige Möglichkeit um eine Verschlechterung der Senkung zu vermeiden.

Ich sehe sie als eine Art Krücke, die so lange verwendet wird bis eine adäquate Funktion des Beckenbodens erreicht wird.

Sie sind auch ein geeignetes Hilfsmittel um bestimmte Sportarten oder (gerade in der Zeit der Rückbildung) den Alltag ohne Sorgen zu meistern.

 

M:

Botox bei Dranginkontinenz?

 

A:

Kann manchmal hilfreich und notwendig sein.

Ich persönlich würde davor immer alle konservativen Möglichkeiten ausschöpfen.

Hier kann die Viszerale Therapie sehr hilfreich sein.

Aber es gibt eben auch neurologische Ursachen, wo solche Maßnahmen einfach notwendig sind um Beschwerden zu lindern.

 

M:

Hilft Beckenbodengymnastik?

 

A:

Ja, wenn sie fundiert ist.

Leider werden immer wieder Kurse angeboten, die zwar gut gemeint sind, wenn aber keine gezielte Untersuchung stattgefunden hat, kann auch keine gezielte Beckenbodengymnastik gemacht werden.

Mein Tipp: Unbedingt die Funktion des Beckenbodens bei einer spezialisierten Physiotherapeutin/einem spezialisierten Physiotherapeuten anschauen lassen.

Wie bereits erwähnt, reicht es nicht aus nur den Beckenboden zu trainieren- Bauch, Rücken, Hüften haben großen Einfluss auf die Funktion und daher hat auch die Haltung einen große Stellenwert. 

 

M:

Haben Hormone Einfluss?

 

A:

Ja, das ist ein komplexes Thema.

Es kann im Laufe eines Zyklusses Unterschiede in der Ansteuerung des Beckenbodens und bei der Kontinenz geben.

Bei Frauen in den Wechseljahren kommt es zu einer hormonellen Veränderung, die einen Einfluss auf die Stabilität der Organe und die Zusammensetzung der Muskulatur hat.

 

M:

Gibt es auch Stuhlinkontinenz?

 

A:

Ja, das kann von leichten Stuhlschmieren in der Unterwäsche bis zu einer kompletten Entleerung reichen und hat einen immensen Einfluss auf das soziale Leben und damit auf die Lebensqualität.

Hier rate ich Frauen, die bei der Geburt einen Dammriss 3. Grades erlitten haben, unbedingt zur Physiotherapie zu gehen.

Auch wenn es nach der Geburt offensichtlich keine Probleme gibt, kann sich diese Verletzung im Wechsel als sehr unangenehm wieder zeigen.

 

M:

Ist Biofeedback eine Therapiemöglichkeit?

 

A:

Biofeedback kann oft sehr hilfreich sein, da es die Anspannung sichtbar macht.

Trotz allem muss erst die gezielte Ansteuerung und die Entspannung erlernt werden.

Außerdem ist das Wichtigste für die Funktion die Integration in den Alltag.

 

M:

Was ratest Du betroffenen Menschen?

 

A:

Versteckt euch nicht, redet darüber.

Harnverlust ist NICHT normal und muss nicht sein!

Oft sind Frauen sehr lange auf der Suche, werden von FachärztInnen nicht ernst genommen, schämen sich und geben viel Geld für Einlagen aus.

Auch in Ärztekreisen ist es leider nicht sehr bekannt, dass Physiotherapie hier Abhilfe schaffen kann.

Wichtig ist, finde ich, dass darauf geachtet wird, ob die Therapeutin den Beckenboden vaginal untersucht und die Ausbildung dazu hat.

 

M:

Möchtest Du uns noch etwas mitteilen?

 

A:

Oh, da gäbe es noch so viel!

Achtet auf die Signale des Körpers und wartet nicht zu lange die Beschwerden in Angriff zu nehmen.

Egal, ob es um Wehwehchen am Bewegungsapparat geht, Beschwerden rund ums Frau sein oder auch psychische Belastungen.

Es gibt so viele tolle Leute da draußen, die einen unterstützen!

 

M:

Vielen Dank für Deine Antworten!!

 

A:

Ich danke Dir ganz herzlich für dieses Interview und das Aufmerksam-Machen zu diesem wichtigen Thema.

 

Anita Kraus

Physiotherapeutin


Biofeedback
Biofeedback
Prolapsformen
Prolapsformen
Vaginalpessar
Vaginalpessar

Links:

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Herta (Mittwoch, 08 November 2023 12:26)

    Herzlichen Dank für deinen imposanten Beitrag. GlG Herta